„Bitte halten Sie ihren Personalausweis in die Kamera und schwenken Sie nun durch den ganzen Raum. Sind Sie bereit, Ihre Online Prüfung abzulegen?“ Erste Fernstudienanbieter haben sich bereits auf Online Prüfungen verlegt, der Prüfling kann diese also vom heimischen Sofa aus ablegen. Die persönliche Präsenz zu Wissenstests im Rahmen eines Online Studiums wird immer mehr in Frage gestellt. Ist die akademische Prüfung via Internet die Zukunft? Wo liegen die Vorteile und was ist problematisch? WINGS Online Marketing Redakteurin Katharina Roese sprach mit Dr. Hieronymus Sturm, Studiengangsleiter für den Fernstudiengang Master Sales & Marketing bei WINGS.
Katharina Roese: Sind Online Prüfungen die Zukunft des Fernstudiums?
Dr. Hieronymus Sturm: Absolut. Das Fernstudium wie es derzeit angeboten wird, wird zukünftig hinsichtlich Zeit und Ort flexibler und effizienter bezüglich der eingesetzten didaktischen Mittel werden. Ein wesentlicher Baustein sind dabei Online Prüfungen. In meiner Vorstellung werden wir uns in einer nicht sehr fernen Zukunft in virtuellen Seminarräumen treffen und dort Übungen, Fallstudien, Rollenspiele und Gruppenarbeiten durchführen. Virtual Reality wird die derzeitigen didaktischen Konzepte perfekt erweitern. Wenn solche Systeme etabliert sind, macht es wenig Sinn, dass wir uns dann für eine zweistündige Klausur wieder in der realen Welt treffen müssen.
Roese: Wie unterscheiden sie sich von Präsenzklausuren?
Dr. Sturm: Präsenzklausuren laufen immer nach einem ähnlichen Schema ab. Studierende und Aufsichtsperson(en) finden sich in einem realen Raum zusammen, dann werden die anwesenden Personen so verteilt, dass idealerweise keine Gruppenarbeit entsteht und es werden die Hilfsmittel definiert. Das sind meistens Schreibgerät, Papier, ggf. Duden, Taschenrechner oder ähnliche Dinge. Zu einem bestimmten Startschuss dürfen dann die Anwesenden nur noch für sich selbst arbeiten. Wie gut das gelingt hängt dann von der Aufmerksamkeit der Aufsicht führenden Person ab.
Menschen haben aber das Bedürfnis bestehende Systeme zu hinterfragen bzw. auszuhebeln. Ein adäquates Mittel, um sich in der Klausur mit nicht gelerntem Wissen zu versorgen, ist der Gang zum WC. Dort kann dann der Telefonjoker gezogen oder Google auf die Schnelle befragt werden. Für mich als Aufsichtsperson entziehen sich solche Aktivitäten komplett meiner Kontrolle. Das ist aber ein hausgemachtes Problem. Immer wenn ich in Klausuren auswendig gelerntes Wissen abfrage, muss ich damit rechnen, dass die Studierenden nach dem Minimax Prinzip agieren. Dazu zählt auch das sog. Bulimie-Lernen: Kurz vor der Klausur stopfen sich die Delinquenten das Wissen rein, um es in der Klausur auszuspucken. Frage ich dann jemanden ein Semester später nach den Inhalten des gelernten Stoffes, kann erschreckend wenig davon reproduziert werden. Wir müssen uns dementsprechend fragen, ob das Ziel des Studiums, in egal welcher Disziplin, darin liegt, möglichst viel Wissen in kurzer Zeit zu lernen oder ob ein real anwendbarer Output entstehen soll.
Für ein berufsbegleitendes Studium kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. In der Wirtschaftswelt wird immer mehr Teamarbeit verlangt. Das ist eine logische Konsequenz der wachsenden Komplexität. Ein Mensch ist kaum noch in der Lage, die Zukunft linear zu prognostizieren und Entscheidungen zu treffen, die nicht nur reinen Vermutungen entspringen. Eine Gruppe von Menschen, bzw. der Zusammenschluss der Gruppenintelligenz, kommt hier meist zu besseren Ergebnissen. In der wissenschaftlichen Ausbildung werden jedoch Einzelleistungen präferiert und gefördert. Das ist für die Gesamtausbildung meines Erachtens eher ungünstig. Zumal eine Metaanalyse von Hunter und Schmidt belegt, dass die Endnote im Studium kein Prädiktor für späteren beruflichen Erfolg ist.
Letzens habe ich bei Jodel, das ist eine Facebook-Gruppe für Studierende, etwas Spannendes gelesen, was das Problem perfekt umreißt: „Mein Lehramtsstudium kurz zusammengefasst: Ich lerne im reinen Frontalunterricht wie schlecht reiner Frontalunterricht ist und muss dann auswendiglernen, wie schlecht auswendig lernen ist.“
Pro und Contra von Online Prüfungen
Roese: Welche Vorteile haben Online Prüfungen?
Dr. Sturm: Didaktisch sehe ich große Vorteile in Online Prüfungen, weil diese zeit- und ortsunabhängig durchgeführt werden können. Das Problem für Fernstudierende liegt vor allem darin, dass die meisten mittlere bis weite Wegstrecken absolvieren müssen, um an Präsenzveranstaltungen teilnehmen zu können. Die Fahrzeiten sind dementsprechend den sunk cost, den versteckten Kosten, zuzuordnen. Ein weiteres Problem sind die zu absolvierenden Prüfungsleistungen. Meisten finden diese vor oder nach der Vorlesung statt oder werden zu einem weiteren Termin im Block angeboten. D.h. an einem Tag werden mehrere Prüfungen abgelegt. Didaktisch und rein von der Konzentrationsfähigkeit des menschlichen kognitiven Systems ist das alles ungünstig. Online Klausuren entzerren das Konzept gewaltig. Für die Studierenden, die mich gerne als Dozenten life erleben wollen, biete ich weiterhin eine Präsenzveranstaltung an. Alle Studierenden bereiten sich auf die Präsenzveranstaltung vor, indem sie sich vorher den Lernstoff über Online- Videovorlesungen – ebenfalls zeit- und ortsunabhängig – angeeignet haben. Vor Ort wird schon lange keine klassische Vorlesung von mir mehr gehalten, die Präsenzphasen haben einen seminaristischen Charakter. Beispielsweise führe ich im Rahmen des Moduls „Verkaufspsychologie“ ein Kommunikationstraining durch. D.h. der bereits gelernte Stoff wird in praktischen Übungen angewendet und dadurch gefestigt. Bis Dato wird beim Master Sales & Marketing nach dem Seminar eine zweistündige Klausur geschrieben. In sehr naher Zukunft will ich dieses Konzept optimieren, indem die Studierenden die Prüfung ein bis zwei Wochen nach der Präsenz schreiben können und wir vor Ort zwei Stunden mehr Zeit haben. Eine Win-Win-Situation.
Roese: Welche Nachteile haben sie?
Dr. Sturm: Der Nachteil, dass wir die Studierenden in Online Klausuren wie in dem Buch „1984“ komplett überwachen müssten, lasse ich nicht gelten. Die Prüfungsform wird eine andere werden. Ich will nicht Big Brother spielen, sondern ich stelle andere Fragen. Es wird kein auswendig zu lernender Stoff abgefragt, sondern nur die Anwendung zählt. Das heißt auch, dass ich alles in Klausuren zulasse. Von dem o.g Telefonjoker, bis hin zur Nutzung des Internets, der Lehrbücher oder was einem sonst noch einfällt. Bewertet wird nämlich nicht mehr auswendig gelernter Stoff, der eh zigfach in Lehrbücher nachzulesen ist, sondern die Kreativität und die Verknüpfung von Inhalten. Das hat erhebliche Nachteile für die Studierenden, die gerne auswendig lernen wollen und das sind nicht wenige. Bulimie-Lernen kann man lernen und das ist im Verhältnis recht einfach bzw. eine Fleißarbeit. Stoff zu durchdringen, so dass kreative Lösungen dabei herauskommen, ist viel schwieriger. Das heißt, das allgemeine Anspruchsniveau wird steigen.
Auf der anderen Seite muss ich als Dozent viel mehr Hirnschmalz investieren, um eine Klausur zu stellen und zu bewerten. Es gibt nicht mehr nominalskalierte Antworten in Klausuren – richtig oder falsch – sondern ich muss einschätzen, wie kreativ die Lösung ist. Kurzes Beispiel: In Präsenzklausuren wird man häufiger Fragen von diesem Typ finden: „Nenne die Vor- und Nachteile der Maslowschen Bedürfnispyramide“. In Online Klausuren wird es mehr in diese Richtung gehen: „Leiten Sie aus den Erkenntnissen der Maslowschen Bedürfnispyramide ein Verkaufstraining ab unter Zuhilfenahme der mathematischen Definition von Motivation“. Ich bin mir fast sicher, dass die Studierenden sehr lange im Netz suchen müssten, um genau dafür eine Lösung herzukopieren. Diese Zeit wird man auch nicht in der Online Klausur haben. Für diejenigen, die noch nichts von Maslowsche Bedürfnispyramide gehört haben, ist die Lösung der Aufgabe kaum möglich. Es bleibt nicht die Zeit, sich erst in den Stoff dafür einzuarbeiten und dann noch eine kreative Lösung dafür zu durchdenken.
Insofern habe ich kein Problem, wenn alles in der Klausur erlaubt ist. Einzig eine Gruppenarbeit sollte es nicht werden, um social loafing zu umgehen. Auch hierfür gibt es eine adäquate Lösung. Die Studierenden bekommen verschiedene Aufgabentypen und der Zeitfaktor ist extrem hoch, so dass die Kommunikation mit anderen zu Lasten der eigenen Note gehen würde.
Roese: Sehen Sie Probleme bei der Umstellung auf Online Klausuren und wenn ja, welche?
Dr. Sturm: Meiner Meinung nach gibt es zwei Probleme. Einstellungsänderungen an Hochschulen sind eher längerfristiger Natur. Die Einführung neuer Systeme braucht gefühlt länger als im Start-Up-Bereich aus dem ich ursprünglich komme. An Hochschulen werden vor allem rechtliche Regularien und Szenarien geprüft und der Mehraufwand gescheut, sich auf neue Prüfungsformen einzulassen. Ist diese Hürde gemeistert, und das ist das fatale, rechne ich mit Widerständen von Seiten der Studentenschaft. Die neue Prüfungsform läutet auch hier ein neues Verständnis bzgl, Vorbereitung und Lernen ein. Die erkaufte Freiheit wird mit Mehraufwand einhergehen. „Leichtes“ Bulimie- Lernen wird zukünftig nicht mehr zum Erfolg führen. Lernen, Verstehen und Kreativität sind die zukünftigen Dimensionen eines Studiums.
Interessanterweise dürfen Studierende Hausarbeiten zu zweit und zu Hause anfertigen, ohne dass ansatzweise eine Überwachung stattfindet. Hier ist die Einstellung der Hochschulen bereits konform damit, dass Studierende alles nutzen dürfen, wenn sie die Quellen fremden Wissens richtig angeben. Bei Zuwiderhandlung wird die Arbeit als Plagiat eingestuft und führt im schlimmsten Fall zur Exmatrikulation. Bei Klausuren sind wir noch nicht ganz so weit. Ich kann mir aber ein ähnliches System vorstellen. D.h. wenn zwei Studenten in einer Klausur, nachweislich eine identische Lösung abliefern, werden beide dafür abgestraft. Ich merke gerade, dass die Durchsetzung von Teamarbeit im wissenschaftlichem Kontext wohl auch bei mir noch ein wenig dauern wird…
Roese: Was ist aus Ihrer Sicht bei Online Prüfungen der neuralgische Punkt?
Dr. Sturm: Ich denke, dass die Qualität der Klausuren von der Fragestellung abhängt. Es liegt in der Verantwortung des Dozenten, gerechte Fragen zu stellen und das geht mit einem erheblichen Mehraufwand einher. Technisch sehe ich kaum Probleme. Ich kenne keinen Master Sales & Marketing-Studierenden, der nicht über einen gescheiten Internetanschluss und nicht über ein entsprechendes Endgerät verfügt. Ich will mir auch keine Gedanken darüber machen, ob während der Klausur unzulässig gearbeitet wird. Ich bin mir sicher, dass die Kreativität von Seiten der Studierenden weiterhin groß ist, bestehende Prüfungssysteme auszuhebeln. Sollte dies zu ungerecht für die ehrlichen Studenten werden, muss von Dozentenseite „on demand“ eingegriffen werden.